Hauptmenü
- Rathaus & Service
- Unsere Stadt
- Leben & Wohnen
- Tourismus & Kultur
- Wirtschaft
Erinnerungen von Hans-Adalbert Degmair
Ende Januar/Anfang Februar 1945 kam unsere Familie, bestehend aus Mutter und vier Kindern und Tante (Schwester meiner Mutter) mit zwei Kindern als erste Flüchtlinge nach Pfreimd. Von Marienwerder im alten Reichsgau Danzig-Westpreußen vor den herannahenden Russen geflohen, war dies unser Ziel, da in Pfreimd eine Anlaufstation in Person von Katharina Fuchs, der Schwiegermutter meiner Tante, bestand. Eine erste Aufnahme fanden wir in einem großen Klassenzimmer der Mädchenschule am Marktplatz, in dem wir die ersten Tage alle zusammen untergebracht waren. Als dann im Laufe des Monats Februar nach und nach immer mehr Flüchtlinge (zum Teil mit Treck-Pferdewagenkolonnen) kamen, erhielten wir eine Wohnung im oberen Stockwerk der Knabenschule, Schloßhof 14/15. Die ersten Kontakte zu Pfreimder Bürgern entstanden über den ganz normalen Vorgang der Verpflegungssicherung. Zunächst gingen wir zum Mittag- und Abend-essen ins Gasthaus Winkler am Marktplatz. Als wir die Wohnung erhielten, reduzierte sich die außerhäusliche Versorgung nur noch auf das Mittagessen, das wir regelmäßig dort abholten. In großen Töpfen trugen wir Suppe und Hauptgericht über den Marktplatz an der Kirche vorbei zu unserer Bleibe. Der nachhaltige Eindruck blieb uns durch die hilfreiche, liebenswürdige Art, in der Frau Winkler uns versorgte. Sie bleibt zeitlebens in unserer Erinnerung als das Beispiel einer mildtätigen und barmherzigen Frau. Ihr Sohn Josef, der dann ein Klassenkamerad eines unserer Geschwister war, tat das Weitere dazu, daß die Verbindung für uns zur großen Hilfe wurde. Oft erzählte meine Mutter, daß Frau Winkler auf die Lebensmittelmarken verzichtete, wodurch Mutter und Tante die sechs heranwachsenden Kinder wenigstens etwas zusätzlich versorgen konnten.
Ähnliche Erinnerungen habe ich an die Familie der Bäckerei Spitzer, deren Sohn zum Kreis der Schulkameraden gehörte.
Wir faßten langsam aber sicher Fuß, was eigentlich nicht so schwierig war, kamen wir doch als erste, was uns wohl noch ein wenig exotisch in der festgefügten Gesellschaft dieser kleinen Stadt erscheinen ließ. So gingen die Wochen dahin und es näherte sich der April, der in die durch den mittlerweile angeschwollenen Flüchtlingsstrom auf-gebrochene Beschaulichkeit des Städtchens erhebliche Bewegung brachte. Ich erinnere mich an immer häufiger zu sehende Militärfahrzeuge, Soldaten, die den Eindruck hinterließen, als ob sie, ohne klare Befehle, auf irgend etwas oder irgend jemanden warteten. Es waren Eindrücke, die ich trotz meiner Kindheit nicht mit der Vorstellung geordneter Truppen verbinden konnte. Dann kam Sonntag, der 22. April; ein Tag, der für uns Kinder sehr spannend wurde. Schon am Vormittag hörte man dumpfes Grollen in der Ferne, das langsam näherkam. Als wir das Mittagessen geholt hatten, meinte meine Mutter, wir sollten nachher mal lieber zu Hause bleiben, es könnten die Amerikaner nach Pfreimd kommen und wer weiß, was dann los sei. Also richteten wir uns danach.
Wir versuchten, durch die Fenster auf der Rückseite der Wohnung in Richtung Sportplatz irgend etwas gewahr zu werden; aber der Ausblick Richtung Wernberger Straße war durch Häuser versperrt. Dann aber hörten wir - es mag so zwischen 3 und 4 Uhr gewesen sein - ein paar dumpfe Schläge, vom Rasseln der Panzerketten unterstützt; und wenige Minuten später dröhnte es vom Marktplatz herüber. Wir gingen alle zusammen in den Keller und warteten ab, was nun folgen würde. Durch die ebenerdigen vergitterten Fenster beobachteten wir, wie eine Reihe von amerikanischen Soldaten mit MP bewaffnet von Haus zu Haus gingen. Nun war auch unser Haus (Nr. 14/15) an der Reihe. Die Frau des Lehrers Georg Hauser, die in der Lehrerwohnung im Hause wohnte, machte zaghaft die Türe auf, als die Frage kam: "Deutscher Soldat?" und sofort betraten zwei Soldaten den Keller und fragten noch einmal: "Wo deutscher Soldat?". Da meine Mutter englisch sprechen konnte, erklärte sie, daß sich im Haus nur Frauen und Kinder aufhalten würden. Es war keine gespannte Atmosphäre. Das zeigte sich auch darin, daß der eine Soldat seine MP auf den Rücken drehte und meine kleine fünf Monate alte Schwester aus dem aufgestellten Bettchen hob, ihr über den Kopf streichelte und sagte: "... ich auch Baby zu Hause". Er drückte sie noch einmal sanft an sich und sagte, daß wir noch im Haus bleiben sollten - und ging. So verhielten wir uns entsprechend und gingen wieder nach oben in die Wohnung, um von dort aus das Geschehen zu beobachten. Mit einem mal - es mag wohl eine Stunde vergangen sein - kamen an beiden Seiten der Kirche entlang auf den Schloßplatz viele deutsche Soldaten, die sich in Reihe und Glied vor unserem Haus aufstellen mußten. Wenn ich mich recht erinnere, waren sie unbewaffnet. Nun mußten sie auf Befehl alles, was sie bei sich trugen, ablegen. So entstanden Berge von Taschenmessern, Taschenlampen, Feuerzeugen, Brieftaschen etc. Das spielte sich etwa gegen 17 bis 18 Uhr ab. Dann wurden die Soldaten abgezogen und alsbald hieß es, wir müßten das Haus frei machen. Die Nachricht überbrachte uns der Lehrer, der sich die ganze Zeit vorher versteckt hatte. Nun packten wir unsere immer noch geringe Habe. Meine Tante hatte unterdessen für uns alle in der benachbarten Wohnung ihrer Schwiegermutter etwas Platz bekommen, so daß wir für ein paar Tage untergebracht waren. Lange sollte es nicht dauern, wie uns gesagt wurde. So war es dann auch.
Als wir dann einige Tage später (ca. eine Woche) wieder zurückkehrten, fanden wir die Wohnung und den Speicher in einem unbeschreiblichen Zustand vor. Es hieß, daß gefangene Ungarn dort untergebracht waren. Vorräte an Lebensmitteln, Konservendosen, Verpflegungspakete etc. lagen in der Wohnung und auf dem Speicher verstreut herum. Für uns Kinder begann eine Entdeckungsreise durch das Haus. Unangebrochene Vorräte wurden sorgsam geborgen und untereinander, auch mit der Lehrerfamilie geteilt. Not macht eben solidarisch.
Inzwischen waren Amerikaner mit ihren Militärfahrzeugen im ganzen Schloßhof aufgefahren und hatten sie dort abgestellt - für uns Kinder natürlich höchst interessant, hatten wir doch bislang nur die an jenem Sonntag eingetroffenen Kampftruppen auf ihren Panzern sitzend oder um sie herumgehend mit ihren roten Halstüchern gesehen. Nun gab es kurze, flüchtige Kontakte und - was uns Kinder besonders freute - fast täglich bekamen wir irgend etwas geschenkt: ein Weißbrot, Kaugummi, Schokolade, Apfelsinen etc. Besonders der junge Amerikaner, der Bill gerufen wurde, zeichnete sich dabei aus. Er war es auch, der freudig-aufgeregt zu uns ins Haus gerannt kam und immer wieder rief: "War is over! War is over!"; was mir heute noch in den Ohren klingt.
Dann zogen die Amerikaner vom Schloßhof ab und zogen sich in das ehemalige Gefangenenlager - wie wir Kinder sagten - an der Wernberger Str. zurück. Dort standen wir oft am Zaun und schauten zu, wenn sie Sport trieben und mit dem übergroßen Lederhandschuh den Schlagball fingen. Gelegentlich ergatterte jemand von den Spielkameraden ein Exemplar davon und trug es stolz nach Hause.